EDITORIAL
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 10/2013
Was wollen wir? In welche Richtung soll es gehen? Diese Fragen stellt man sich derzeit nicht nur in Bayreuth und Salzburg, wo über Fortsetzung oder Nachfolge der Festspielleitungen entschieden wird.
Weiter →Nicht selten ist dabei auch die Politik gefragt, denn wie stets geht es in nicht unwesentlichem Ausmaß auch ums Geld. Das Bayreuther Führungsduo hatte schon weit vor dem diesjährigen Sommer nachdrücklich Zusagen für ein finanzielles Mehr eingefordert – und inzwischen mit einer millionenschweren Finanzierungsvereinbarung zur Festspielhaussanierung ein entscheidendes Etappenziel erreicht. Gute Vorzeichen auch für die Vertragsverlängerung der beiden Wagner-Halbschwestern? In jedem Fall eine wichtige Zukunftssicherung für das bedeutendste deutsche Festspiel.
An der Salzach dagegen hatte es früh geknirscht im Gebälk. Die Pläne von Alexander Pereira waren manchem – ganz unabhängig von künstlerischen Resultaten – schlichtweg im Wortsinn zu viel: viel zu viel Geld, viel zu viel Programm. Doch der scheidende Salzburger Festspiel- und künftige Mailänder Scala-Chef dürfte beileibe nicht der Einzige im internationalen Zirkus sein, der gezielt einen Kurs mit hohem Risiko fährt, wohlwissend, dass am Ende auch einmal rote Zahlen stehen können: Auch andernorts wird gern mal über die Verhältnisse gelebt, zuweilen visionär, zuweilen weil man es ganz einfach muss – geschuldet (und geduldet von) einer Politik, die im subventionierten Theaterbetrieb mit gedeckelten Haushalten und teils elementaren Sparbeschlüssen hauptverantwortlich ist für finanzielle Schräglagen diverser Kulturinstitutionen. Da kann es nicht schaden, hochkarätige, innovative oder aus anderen Gründen prestigeträchtige „Leuchtturmprojekte“ geboten zu bekommen – und am Ende, wenn es kritisch wird, mit dem Finger doch auf einen anderen Schuldigen zeigen zu können.
Mit Zahlen umgehen zu können, ist von jeher eine Grundvoraussetzung für den Job eines Theaterleiters. Tolle Programme, hohes Niveau und ein ausgeglichener Haushalt – durchaus vereinbare, parallel erreichbare Ziele, wie es viele Intendanten und Operndirektoren immer wieder nachdrücklich (und mitunter langjährig) beweisen. Doch auch schwarze Zahlen sind per se weder Maßstab noch Gütesiegel für Kunst. Qualität hat nun einmal ihren Preis, und zuweilen wirkt das in Realität umgesetzte Motto „Was wäre, wenn?“ eben nicht rein fatalistisch, sondern wie ein aufrüttelndes, im besten Falle sogar richtungsweisendes Signal. Beispiel Hamburg: Hier konnte man in wenigen Jahren einen geradezu atemberaubenden künstlerischen Aufstieg eines Orchesters erleben – und nun den möglicherweise freien Fall. Die Hamburger Symphoniker haben unter der Ägide von Intendant Daniel Kühnel ein bis ans Limit hochgefahrenes Programm geboten, mit hochkarätigen Gaststars, anspruchsvollem Repertoire und einer unter Chefdirigent Jeffrey Tate beständig steigenden Klangkultur. Nun muss der Hamburger Senat die Insolvenz abwenden. Noch schlimmer aber für die sich gern auch kulturell als Metropole von Rang gerierende Hansestadt wäre der Verlust des gerade erst gewonnenen Niveaus dieses Traditionsorchesters. Die Frage nach den Zielen steht auch hier mehr denn je im Raum: Was wollen wir wirklich, wer wollen wir sein? Wunsch und Wirklichkeit mögen zuweilen so weit auseinander liegen, dass sie einfach nicht zueinander passen wollen. Doch wer sich mit der Elbphilharmonie einen der teuersten, eindrucksvollsten und prestigeträchtigsten Musentempel baut und damit unverhohlen in die Oberliga strebt, kann eigentlich nur zukunftsorientiert mit einem weiter steigenden Kulturetat antworten und den Konjunktivcharakter des Möglichen in einen starken Imperativ des Notwendigen verwandeln.
Echte Wertschätzung offenbart sich zuweilen erst, wenn die Dinge, die uns lieb und im Wortsinn teuer sind, in der Existenz bedroht werden. Das zeigt sich in der amerikanischen Metropole New York, wo die traditionsreiche City Opera inzwischen endgültig vor dem Aus zu stehen scheint, ebenso, wie im deutschen Bundesland Sachsen-Anhalt, wo gleich mehrere Theater bedroht sind, die Bevölkerung aber weitere Einschnitte nicht hinnehmen will. Wo ein Wille ist, müssen sich Wege finden lassen. Die überwältigende Unterstützung, die den im letzten Hochwasser versunkenen Händelfestspielen Halle so beeindruckend schnell wieder auf die Beine geholfen hat, spricht eine eindeutige Sprache. Die Politik muss nur genau zu- und hinhören. Oder bei Bedarf einfach mal die Aufnahme der weltweiten TV-Übertragung der Londoner „Last Night“ zurückspulen, in der Marin Alsop vom Pult aus treffsicher den passenden Eintrag ins Stammbuch formuliert hat – und dafür von einem Millionenpublikum Zustimmung erhielt: Musik und Kunst gehören nicht an den Rand, sie gehören nach vorn, ins Zentrum!