EDITORIAL
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 5 /2018
Wissen Sie, was „der gute Ton“ ist? Wir alle haben eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was in der einen oder anderen Situation angemessenes Verhalten ist – und was eben nicht. Doch der eigene Erfahrungsschatz hat Grenzen, denn jeder gesellschaftliche Kreis und jedes kulturelle Format pflegen eigene Regeln und Rituale. Im Bereich der klassischen Musik, insbesondere im Konzert, sind wir uns über gewisse Abläufe vollkommen einig: Applaus bei Auftritt des Orchesters, Konzertmeister zuweilen extra, gefolgt von einem phonstärkeren Willkommensgruß für den Dirigenten und etwaige Solisten. Dann: Stille und Konzentration auf die Musik. Aber wie weiter? Das in der Kölner Philharmonie ausgegebene „Handbuch für den modernen Konzertbesucher“, passenderweise mit eben jenem eingangs zitierten Titel, versucht es schulmeisterlich: „Ein Innehalten der Interpreten bedeutet nicht automatisch, dass das Konzert oder ein Teil des Konzerts vorbei ist. Damit die Musiker in ihrer Interpretation nicht gestört werden, empfehlen wir Ihnen, im Zweifelsfalle mit dem Applaus zu warten, bis die Mehrheit der anderen Zuhörer auch klatscht.“ Ganz demokratisch also – und nur nichts falsch machen! Denn Vorsicht: Wenig scheint den eingefleischten Klassikfan mehr echauffieren zu können als das Klatschen an „falscher“ Stelle. – Eine berechtigte, zielführende Belehrung also?
Weiter →Auch Marlis Petersen, Titelkünstlerin dieser Mai-Ausgabe, weiß um die Unberechenbarkeit eines voll besetzten Auditoriums. Bei ihrem Liederabend in der Hamburger Elbphilharmonie zu Beginn der Saison sah sie sich gar mit einer derart klatschfreudigen Zuhörerschaft konfrontiert, dass nach jeder einzelnen „Nummer“ anerkennender Applaus aufbrandete – was alle Kenner im Saal, die lieber still, in größeren Zusammenhängen genießen wollten, spürbar quälte. Die Künstlerin tat gut daran, ihr Publikum dennoch nicht zu maßregeln, wie es manch Diva oder Divo in früheren Zeiten noch gern getan hatte. Zumal an diesem Abend auch etliche Besucher aus Neugier – war es der prominente Name, war es der neue Saal – gekommen und mit dem vorgetragenen Programm offenkundig wenig vertraut waren. Mich persönlich stört, ganz gleich ob in der Oper oder im Konzert, nervöses Geraschel und Dauertuscheln ungleich mehr als reflexartiges Klatschen. Von vibrierenden, gar klingelnden Handys oder (leider eine zunehmende Unsitte!) all den kleinen, flimmernden Bildschirmen der Freunde ausgiebiger Foto-/Film-Erinnerungen oder chattender Social-Media-Süchtiger ganz zu schweigen.
Eine unvermittelte Reaktion aber, wie sie sich nach einem furios gespielten Scherzo entzünden kann, unterbinden zu wollen, wäre fatal; neues, junges Publikum wäre schnell vergrault. Anstatt sich kennerhaft berufen zu fühlen, den Sitznachbarn zu belehren, sollten wir uns freuen über das gezeigte Interesse, die Offenheit, die Begeisterungsfähigkeit.
Der Ritus des gemeinsamen Musikgenusses ist ohnehin über die Jahrhunderte einem steten Wandel unterworfen und wird sich weiterhin verändern. Auch lokale Unterschiede können gravierend sein. Schon das italienische oder spanische Opernpublikum lässt sich zu ganz anderen, impulsiveren Reaktionen hinreißen als das deutsche oder österreichische. Wer das Musiktheatergeschehen weltweit verfolgt, erlebt Aufschlussreiches – von hitzig mitten in die schönste Bravourarie hineinkrakelten Kommentaren an der Mailänder Scala bis hin zum „viel zu früh“ sich bahnbrechenden Bravojubel beim »Siegfried«-Finale im fernen Beijing, wo man eben nicht bis zum Schlussakkord warten kann. Eine Erfahrung aber macht man überall: Oper, Lied und klassische Konzerte sprechen eine universal verständliche Sprache. Andere Gepflogenheiten oder Temperamente, kulturelle Unterschiede und jedes Level an Hörerfahrung: Musik berührt uns unmittelbar – ganz ohne Regeln und Anleitungen.