EDITORIAL
Autor: Y. Han · Ausgabe 11/2020
Das Thema Corona will uns einfach nicht loslassen. Nachdem die Saison zwar vielfältig und -gesichtig, aber auch genauso vielversprechend gestartet war, scheinen die Schritte, mit denen man sich vorwärtsbewegt, unweigerlich wieder kleiner zu werden angesichts europaweit stark steigender Fallzahlen. So manches erscheint abermals unklar – das Schicksal der vielen ungenannten Freiberufler, die während der Theaterschließungen keine Auftrittsmöglichkeiten und dann aber auch keine Plattform hatten, sich überbrückend zu präsentieren; die Zukunfts-perspektive der Musiktheaterszene und ihrer Künstler für die kommenden Monate – wie lange können Theater sich den Jetzt-Zustand mit spärlich gefüllten Sälen leisten?
Weiter →Und wird radikal abgespeckt werden, wie Philippe Jaroussky es düster in den Raum stellt? Nur noch große, verkaufsträchtige Namen, die möglichst viel Geld in die Kassen spülen, in bewährten Repertoireklassikern, mit denen man nichts falsch machen kann? Wir stehen an einem Punkt, an dem abermals ganz unterschiedliche Szenarien möglich scheinen – so wie sich schon jetzt sehr unterschiedliche Ansätze manifestieren zwischen den teilweise geradezu gegensätzlichen Polen Zürich/Wien/Berlin und den Häusern, die ihrem Publikum lieber Reduktionen anbieten. Die Zuschauerdankbarkeit scheint auch in dieser Hinsicht eine kritische Evolution zu durchlaufen. Denn so wie man im Lockdown die Kreativität und Emsigkeit der Online-Angebote auf sämtlichen Plattformen erst mit Begeisterung konsumiert hat, nur um dann mit Verstreichen der Wochen ihrer wieder überdrüssig zu werden vor Sehnsucht nach dem Live-Erlebnis, scheint nun auch nicht mehr jeder dieser so sehr herbeigesehnten Live-Abende den inneren Ansprüchen eines Opernliebhabers zu genügen: „Oper, wie sie mal war“ wird geradezu zum geflügelten Wort; man wünscht sie sich offenbar mit jedem Tag heftiger zurück und verliert darüber die Fähigkeit, das, was uns mit Mühe und Sorgfalt zurzeit geboten wird, voll zu goutieren. So mancher, der kulturangebotstechnisch noch „darben“ muss, schielt sicherlich neiderfüllt nach Berlin, Wien oder Zürich, wo man entweder bereits den Vor-Corona-Zustand erleben durfte oder ihm zumindest ganz, ganz nah gekommen ist, und fragt sich ungehalten: Wieso geht das nicht auch in „meinem“ Haus? Hätte man nicht das gleiche auf die Beine stellen können? Das ist verständlich und menschlich. Aber besser und richtiger wäre es vermutlich, noch ein wenig länger Geduld und Verständnis aufzubringen und sich für den Moment weiter auch über noch so kleine Besetzungen, merkwürdig anmutende Bühnenkonzepte und pragmatische Stückauswahlen zu freuen, in Rückbesinnung auf den gesellschaftlichen Konsens und den Geist von Zusammenhalt, der uns bereits durch den Frühling gesteuert hat. Es ist nun einmal, wie es ist. Und am besten kommt man durch Zeiten wie diese mit ein wenig Grundvertrauen, Optimismus und Zusammenhalt. Wir freuen uns, dass Sie, liebe Leser, uns weiter auf der Reise durch die tapfer durchhaltenden Musiktempel begleiten, und wünschen Ihnen in diesem Sinne eine spannende Lektüre.