EDITORIAL
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 10/2018
Singen auch Sie, liebe Leser, zuweilen unter der Dusche? Die besondere Akustik gekachelter Räume scheint einen unwiderstehlichen Reiz auf uns auszuüben und motiviert bekanntermaßen nicht wenige Menschen zum Trällern – von Lieblingssongs, freien Improvisationen oder gar einer anspruchsvollen Belcanto-Koloratur, je nach Talent und Stimmbeherrschung, mal piepsig oder grummelnd, mal voll ausgesungen in gut gestütztem Brustton der Überzeugung. Wenn Sie sich zu letzteren Kandidaten zählen und vielleicht tatsächlich eine Begabung zu haben glauben, dürften Sie jetzt vermutlich aufhorchen: Derzeit können Sie in einigen ausgewählten Hotels in ganz Europa unter der Dusche losschmettern und das Ganze über ein professionelles (und wasserfestes) Aufnahmeequipment direkt mitschneiden, speichern, teilen. Eine charmante Idee – und was für Chancen! Die findige Marketingstrategie der Universal Music Group in Zusammenarbeit mit der Hotelkette Aloft ist an sich nur Rahmenprogramm eines Wettbewerbs für Bands und Künstler, die noch keinen Plattenvertrag haben. Aber wer weiß, vielleicht traut sich ja auch der eine oder andere heimliche Dusch-Star an eine Opernarie? Es wäre doch herrlich, wenn am Ende „Nessun dorma“, „Sempre libera“ oder die „Winterstürme“ auf der in Aussicht gestellten Single-Veröffentlichung zu hören wären.
Weiter →Kreativität ist gefragt. Wer heute als Produzent von Tonaufnahmen überhaupt noch wahrgenommen werden will, braucht Aufmerksamkeit. In einer Zeit, in der die technische Entwicklung in immer schnelleren Schritten voranschreitet und gleichzeitig die Verbreitungsmöglichkeiten sowohl von der reinen Information als auch vom eigentlichen Produkt, der Musik, über das Internet nahezu grenzenlos scheinen, sind Legionen von Strategen damit befasst, immer neue lukrative Ideen zu entwickeln, Synergien anzustoßen, vorrausschauend die entscheidenden Trends zu erkennen oder diese am besten gleich selbst zu setzen. Hatten insbesondere die sogenannten Majors der einstmals unter dem Begriff „Plattenfirmen“ subsummierten Produzenten die webbasierten Chancen komplett verschlafen, sind auch sie längst in Sachen Streaming, Onlineangebot und Social Media umtriebig und durchaus erfolgreich unterwegs. Auf die nach wie vor weitreichende Wirksamkeit des TV will man dennoch nicht verzichten. Kein Wunder, dass man alles darangesetzt hat, das im April durch den Skandal beim Pop-ECHO als Kollateralschaden mitruinierte Klassik-Pendant gleichen Namens möglichst verlustfrei in ein alternatives Nachfolge-Projekt hinüberzuretten. Nun wird Mitte Oktober in Berlin, zum längst vorab gebuchten Termin, ein Neustart versucht, mit den bereits eingegangenen Nominierungen für das ausgemusterte Modell, ausgelobt vom eiligst gegründeten „Verein zur Förderung der klassischen Musik“, sowie neuen vier Buchstaben – als OPUS Klassik.
Der ewige Kampf um Wahrnehmungsanteile bleibt der gleiche, und es ist bemerkenswert, dass bei aller Verlagerung auf mediale, auch interaktive Wege die Relevanz des gedruckten Wortes erhalten geblieben ist. Mehr noch scheint sie allen Unkenrufen zum Trotz wieder zuzunehmen, motiviert durch die Suche nach einem Gegengewicht zu der sich rasant verbreitenden, aber oftmals (vor-) schnellen und nur oberflächlich informiert „rausgehauenen“ – und zuweilen auch sehr schnell wieder verschwundenen – Meinungsäußerung im World Wide Web.
Entscheidend ist nach wie vor ein Grundsatz, der schon zu seligen LP-Zeiten und selbst in der Hochphase der CD seine Gültigkeit hatte: Karrieren in der klassischen Musik, in der Oper zumal, werden letztendlich auf der Bühne gemacht. Und wenn sich diese „Bühne“ heute immer weiter ins Mediale ausdehnt und vervielfältigt über Kinoübertragungen, Livestreaming, YouTube und so weiter: Je mehr Möglichkeiten zum Vergleich all dessen, was uns als relevanteste Kunst vorzusetzen versucht wird, umso besser. So wissen wir alle, sei es im Theater, im Kino oder daheim am Bildschirm, heute mehr denn je zu differenzieren zwischen Starstatus und tatsächlichem Können.
„Das Opernglas“ ist Ihnen bei der eigenständigen Meinungsbildung wie gewohnt ein verlässlich kompetenter Wegweiser, und so finden Sie auch in dieser Ausgabe wieder einen umfassenden Blick auf das aktuelle Operngeschehen mit den spannendsten Ereignissen auf den Bühnen weltweit – von den europäischen Festspielen und den ersten Premieren der Saison in Hamburg oder Wien bis hin zur San Francisco Opera ganz im Westen und dem New National Theatre Tokyo im Fernen Osten.