EDITORIAL
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 9/2017
Wahnfried. 13. August 1875, 12:45 Uhr, Außentemperatur 23 Grad Celsius. Kapellmeister Hermann Levi aus München hat sein Kommen angekündigt. Auch Franz Liszt ist auf dem Weg nach Bayreuth… Mit diesen Worten begann, als Texteinblendung noch vor dem ersten Ton der Ouvertüre, die mit großer Spannung erwartete Bayreuther »Meistersinger«-Premiere.
Weiter →Grüner Hügel, Festspielhaus, 1. August 2017, 15:45 Uhr, Außentemperatur 34 Grad Celsius – so würde ein Pendant aus dem aktuellen Jahr lauten. Die einmal mehr sehr internationale Gästeschar hat auf ihr Kommen angesichts der hohen Temperaturen natürlich auch an diesem Hochsommertag nicht verzichtet und ist bestens gelaunt auf dem Weg über die Stiegen zu ihren Plätzen: zu einem weiteren hochkarätigen »Ring«-Abend in Bayreuth. Marek Janowski, ein wahrer Kapellmeister der alten Schule, ist wieder (im Gegensatz zu manch jüngerem Kollegen selbstverständlich langärmlig gekleidet) in den Graben hinabgestiegen und dirigiert auch diesen »Siegfried« mit ansteckender Leidenschaft und einer angesichts der Schwüle umso beneidenswerteren Kondition. Auch die Sänger leisten ebenso physisch wie in Sachen Konzentration Schwerstarbeit, sind sie doch zudem auch noch in Kostüm und Maske dem unerbittlich aufheizenden Scheinwerferlicht ausgesetzt. Und da wagen wir, die wir in Abendkleid und Smoking auf harten Sitzen schwitzen, zu klagen? (Absatzmarke!)
Unsere Hochachtung gilt in diesem Sommer allen Künstlern, die an diesem und vielen anderen Festspielorten bei ihren nicht selten auch szenisch sportiven Einsätzen – der Operngesang allein wäre schon Höchstleistungssport! – den diesmal so besonders unberechenbaren Wetterkapriolen mit bewunderungswürdigem Einsatz trotzten. Hitze in Italien, Spanien, Südfrankreich, andernorts Schauer, Stürme und Gewitter. Eine für diese Monate durchaus synonym stehende Koordinaten-Variante hieß da beispielsweise: Bregenzer Seebühne, 19. Juli, »Carmen«-Premiere, strömender Regen bis in den dritten Akt hinein… Da war Durchhaltevermögen gefragt. Auch bei den Premierengästen, die allen Widrigkeiten zum Trotz ebenso diszipliniert wie aufmerksam ausharrten. Egal also ob Hitzeschlacht in der „Wagner-Scheune“ oder „Wasser marsch!“ zum feurigen Spanien-Kolorit: Sie alle, liebe Leser, waren auch in diesem Festspielsommer wieder ein tolles Publikum, das sich mit seiner Begeisterungsfähigkeit selbst ein dickes Kompliment verdient hat.
Zuschauer für den Moment zu bannen und bei der Stange zu halten ist das eine. Sie überhaupt erst zu gewinnen und dann auch nachhaltig und langfristig zu binden, ist und bleibt die eigentliche Herausforderung. Programmatik und künstlerischer Ertrag können da schon mal sehr unterschiedlich sein und doch gleichermaßen zum Erfolg führen. Wir waren wie gewohnt bei allen wichtigen Premieren dabei und haben dementsprechend auf den nachfolgenden Seiten eine ganze Reihe für Sie hoffentlich aufschlussreicher Berichte zusammengetragen: von Anna Netrebkos Rollendebüt als Aida in Salzburg über Münchens Weber- und Schreker-Premieren bis hin zum „Ring an vier Tagen“ in Erl. Die ebenso üppige wie vielgestaltige Attraktivität einer kompakten Festspielsaison legt eine ziemlich hohe Messlatte, an die die Opernhäuser mit ihrer jetzt beginnenden regulären Spielzeit erst einmal herankommen müssen. Aber da hier schon im September die ersten Großereignisse mit etlichen interessanten Premieren anstehen, dürfte auch dies wieder eine spannende Zeit werden. Die Herausforderung also ist angenommen – und wir freuen uns auf eine aufregende, anregende neue Saison!