EDITORIAL
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 6/2018
Die Chemie muss stimmen. Wie in jedem Team, das gemeinsam arbeitet, zählt auch im Musiktheater ein perfekt aufeinander abgestimmtes Zusammenspiel der Kräfte. Die Oper als mehrere Ebenen und unterschiedliche Künste vereinendes Genre ist ein besonders komplexes Konstrukt, das sich zudem permanent zu beweisen hat, da alle Faktoren Abend für Abend immer wieder neu zueinanderfinden müssen. Wenn da etwas nicht rund läuft, wird das sehr schnell hörbar; aber selbst ohne wirkliche spieltechnische, rhythmische oder Intonations-Fehler kann Anspannung, Unsicherheit oder Missstimmung offenkundig werden, geht es doch beim gemeinsamen Musizieren ganz wesentlich um das Aufeinander-Hören und -Reagieren, um das Miteinander-Atmen eines vielköpfigen Organismus.
Weiter →Was aber, wenn die Harmonie nicht stimmt? Der Beruf des Opernsängers kann Herausforderungen stellen, die jenseits aller musikalischen Kompetenz auch Fingerspitzengefühl, nicht selten aber auch das Überwinden etwaiger zwischenmenschlicher Differenzen abverlangt. Stellen Sie, liebe Leser, sich nur einmal vor, Sie müssten mit Ihrem wenig geschätzten Nachbarn (oder einem Ihnen völlig Unbekannten) eine innige Liebesszene spielen – immer und immer wieder, in den Proben, auf der Bühne, vor Publikum… Irgendwie mag man sie da doch viel leichter glauben, all die amüsanten bis latent gruseligen Anekdoten, die immer wieder durch das Labyrinth der Opernhausgänge geistern – von heimlich über den Bühnenboden verstreuten Nägeln als Attacke auf die beneidete Konkurrentin, dem pollenintensiven Blumengruß in der Garderobe des allergischen Gastsolisten, dem Biss ins Ohr der Partnerin beim großen Duett…
Aber es gibt auch durchaus sehr reale, auch schon einmal heftige Auseinandersetzungen im Musiktheaterbetrieb. Michael Hofstetter, Generalmusikdirektor am Stadttheater Gießen, sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, im Vorfeld der konzertanten »Forza«-Premiere mit der Hand zum Schlag gegen eine Inspizientin (die ausweichen konnte), ausgeholt zu haben, was umso mehr irritiert, als die Musiker des Orchesters sich nach diesem Vorfall genötigt sahen, der Theaterleitung eine ganze Liste mit „unschönen Vorgängen“ den GMD betreffend vorzulegen. Ein offenkundig schon länger schwelender Konflikt, der alle Beteiligten nicht sonderlich gut dastehen lässt. Ein offenes Wort, frühzeitig ausgesprochen, kann sehr hilfreich sein.
Dieses ist aber offenbar auch, das zeigt sich derzeit am Staatstheater Cottbus, im hierarchisch strukturierten Theaterbetrieb nicht so leicht anzubringen. Dort hatte sich ein über Monate aufgestauter Unmut von Orchester und Opernsolisten über den autoritären, als „cholerisch“ bezeichneten Führungsstil des GMD derart Bahn gebrochen, dass zwischenzeitlich der gesamte Betrieb der Opernsparte auf der Kippe stand. Für die Premiere »Macbeth« wurde Generalmusikdirektor Evan Alexis Christ kurzfristig ersetzt, bald darauf bis Ende der Saison beurlaubt, dann kündigte Intendant Martin Schüler selbst seinen Rücktritt an, um den Weg für einen kompletten Neuanfang freizumachen.
Die Oper ist gewiss keine sehr demokratische Angelegenheit. Man erwartet klare Ansagen. Unterschiedliche Auffassungen gehören zum Alltag, Reibungen und Differenzen in künstlerischen Fragen sogar ganz wesentlich zum kreativen Schaffensprozess. Wie diese ausgetragen und letztlich getroffene Entscheidungen kommuniziert und durchgesetzt werden, ist auch eine Frage von sozialer Kompetenz, Stil und Charakter.