Editorial
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 6/2016
Wann beginnt eine Karriere? Und wie kommt sie so richtig, vor allem nachhaltig in Schwung? Ein Patentrezept für den entscheidenden Schub gibt es nicht, dafür ist die Welt des Musiktheaters – glücklicherweise – ein zu breites, vielgestaltiges, sich ständig veränderndes und immer weiter entwickelndes Feld, das schwer berechenbar ist. Überraschungen inklusive.
Weiter →Einige Muster scheinen dennoch durch: In den Biografien vieler Sängerstars findet sich nicht selten einer jener besonderen Momente, der im Rückblick den entscheidenden Impuls gegeben hatte für die nachfolgende internationale Karriere. Dabei wird leicht einmal übersehen, dass der künstlerische Weg selbstredend weit früher begonnen hatte, mit konstanter, harter Arbeit über viele Jahre, dem einen oder anderen Umweg und so mancher herben Enttäuschung. Die Annalen der Oper sind voll von legendenumrankten, auch schon mal galant den einen oder anderen Karriereknick beschönigenden Ereignissen, sei es die rauschend gefeierte Premiere, ein wichtiges Rollen- oder Hausdebüt, das spektakuläre Einspringen…
Auf das Timing kommt es fraglos an; bestens präpariert, versteht sich, sonst nützt die schönste Chance nichts. Aber auch der stete, eher langfristig wirkende Einfluss eines kreativ-konstruktiven Kontakts zu einer besonderen Künstlerpersönlichkeit – zur kollegialen Operndiva, zum väterlich fördernden Maestro, dem umsichtig fordernden Intendanten – kann von unschätzbarem Nutzen für einen jungen, aufstrebenden Künstler sein. Jakub Józef Orlinski, Titelkünstler dieser Ausgabe, dürfte sehr wahrscheinlich zu jenen Sängern gehören, bei denen vor allem die erfolgreiche Teilnahme an einem Wettbewerb die richtungsweisenden Weichen gestellt hat. In seinem Fall sind es derer gleich mehrere: Der polnische Countertenor hat über die vergangenen Monate eine ganze Reihe von vordersten Platzierungen bei internationalen Wettbewerben eingeheimst. Und doch will er trotz zunehmender Nachfrage seine Studien an der Juilliard School in New York, die er nach ersten erfolgreichen Engagements, vor allem in Deutschland (aktuell ist er an einem spannenden Othello-Projekt beteiligt, das an der Oper Leipzig im Juni und Juli noch zweimal zu erleben ist), bewusst noch angefügt hat, in Ruhe zu Ende bringen, bevor er all die verlockenden Angebote annimmt, die ihn jetzt erreichen. Eine durchaus kluge, vorbildliche Zurückhaltung, die er, wie wir aus zahlreichen anderen Gesprächen wissen, mit so manchem seiner hochtalentierten Kollegen, die derzeit so erfreulich zahlreich von den Hochschulen und aus den Opernstudios auf die Bühnen streben, teilt.
Junge, vielversprechende Karrieren zu verfolgen und sie medial zu begleiten, ist eine der schönsten Komponenten, die unser Beruf zu bieten hat, und ich weiß, dass dies auch die meisten Operndirektoren, Kapellmeister und Künstleragenten so empfinden. Das kann im besten Fall ein jahrzehntelanges Vergnügen sein. Wir alle zusammen haben dabei auch eine besondere Verantwortung, die ernst zu nehmen mir in unserer Redaktionsarbeit immer ein großes Anliegen ist. „Das Opernglas“ ist ja stets sehr früh dabei, wenn es um die Entdeckung aufstrebender Talente geht. Es freut uns jedes Mal, wenn die vorgestellten Namen oft schon kurze Zeit später in den Besetzungslisten der großen Bühnen auftauchen. Am Ende aber entscheiden die Sänger selbst, wohin ihre Reise gehen wird – und Sie, liebe Leser, ob Sie diesen Weg mitgehen wollen. Und wenn wir Ihnen Monat für Monat aufs Neue das Spannendste, Relevanteste, mitunter Überraschendste aus der Welt der Oper zu einer interessanten, abwechslungsreichen Lektüre zusammenstellen, wird immer wieder deutlich, dass man Vorhersagen in der Regel ohnehin nicht treffen kann, weder für eine Karriere noch für den Verlauf einer abendlichen Vorstellung – das wissen Sie als erfahrene Operngänger selbst am besten. Und unsere Autoren können da wahrlich von den erstaunlichsten Dingen berichten, in dieser Ausgabe unter anderem von einem von seiner berühmten Kollegin auf offener Bühne allein gelassenen Startenor…