EDITORIAL
Autor: Y. Han · Ausgabe 5/2020
Das Leben wird behutsam wieder hochgefahren, aber ein wenig bekommt man den Eindruck, als zähle das Kulturleben zu den verzichtbaren Luxusgütern – den netten Extras, die man wie die Streusel auf dem Eis auch weglassen kann. Es ist fast so wie noch zu Schulzeiten: Sportunterricht war unheimlich wichtig, Musikunterricht schlug sich nur unter ferner liefen durch. Nur die wenigstens von uns werden dieser Tage gern an den verantwortlichen Stellen sitzen und verfügen wollen, welche Lebensbereiche man beim Lockern der Maßnahmen priorisieren sollte. Die Entscheidung und die Entscheidungsfindung ist schwierig, undankbar und fällt zwangsläufig ungerecht aus, egal wie man sie trifft, denn dazu konkurrieren aktuell einfach zu viele Lebensbereiche miteinander. Die Gesundheit steht unbestritten über allem, aber auch die wirtschaftlichen Zwänge werden zunehmend drängender – wir stehen in einer Zwickmühle, dürfen nichts überstürzen, müssen Wirtschaftszweige am Leben erhalten, Kinder und Jugendliche wieder in die Schulen bringen, Geschäfte öffnen; aber wer erhält nach welchen Kriterien den Vorrang? Wonach wird bemessen, was wann geht und was warum (noch) nicht?
Weiter →Schon wird das aktuelle Leid der Kultur- und Opernszene mit einem langsamen Erstickungstod verglichen: „Die Hand an ihrer Kehle lässt nicht locker, im Gegenteil, sie festigt ihren Griff im Namen der epidemiologischen Vernunft“ und: „Die Frist, die der Kultur bis zum Erstickungstod bleibt, läuft rasend schnell ab.“ Die Rufe und Initiativen nach einer Lösung, um diese Zwangspause erträglich und mit Perspektive für alle Beteiligten zu gestalten, waren von Anfang an da, aber die Politik lässt auf verwunderliche Weise mit einer hilfreichen Antwort auf sich warten und zwingt vor allem die Kulturschaffenden so weiterhin dazu, auf Sicht zu fahren, sich im Zweiwochenzyklus bang voranzutasten oder prophylaktisch komplett abzusagen. Schleswig-Holstein hat zumindest vage eine 1000-Personen-Regelung in den Raum gestellt, Bayern hingegen, immerhin eine von Deutschlands Opernhochburgen, warf Theater kurzerhand mit allerhand anderen, ganz anders gearteten Großveranstaltungen in einen Topf – ohne stärker zu differenzieren, obwohl der zivilisierte Theaterbetrieb dies doch an sich zuließe und auch anbietet. Abstände ließen sich mindestens ebenso gut, wenn nicht sogar besser als im Supermarkt einhalten, auch die Ausführenden könnten (auch wenn es sicherlich mit Umständlichkeit verbunden wäre) Vorsichtsmaßnahmen einhalten.
Die Stars der Szene und die großen Staatshäuser werden diese sich länger und länger dehnende Durststrecke sicherlich mit einem blauen Auge und tiefem künstlerischen Schmerz überleben. Für andere Veranstalter, kleine freie Ensembles, freie Künstler, private Konzertbetriebe lässt sich das nicht so optimistisch sagen. Sicher, Kunst und Musik sind Dinge, die das Leben vor allem schöner machen, aber es darf über diese in ihrer Natur liegenden Schönheit nicht in Vergessenheit geraten, dass auch die Kultur ein großer Wirtschaftssektor ist, an dem viele Jobs und Existenzen hängen. Und vom schieren Überleben abgesehen: Eine Welt ohne Kunst ist eine der seelischen Dürre, denn der elektronische Konsum ist nun einmal nicht das gleiche wie das vor allem auch kollektive Erleben von live im selben Raum entstehender Musik – dennoch weiterhin großer Dank (unter anderem!) an Igor Levit für seine unermüdlichen Hauskonzerte, ein erneutes Hoch auf Joyce DiDonato für ihr „house-to-house“-Konzert mit Antonio Pappano, aber auch auf die unzähligen anderen Künstler, die Instagram mit regelmäßigen musikalischen Beiträgen bereichern.
Lassen Sie uns gemeinsam hoffen, liebe Leser, dass uns bald ein vielversprechender Zeit- und Fahrplan aufgezeigt wird, anhand dessen wir gesund und unbeschadet mit aller gebotenen Vorsicht, wieder in einem Saal sitzen und im sich schummrigen herabsenkenden Dunkel in Musik baden können.