Editorial
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 5/2016
Wie dicht liegen die Dinge zuweilen beieinander. Als Mitte April die erste Spielzeit der neuen, im kommenden Januar eröffnenden Elbphilharmonie in Hamburg vorgestellt wurde, waren Stolz, persönliche Begeisterung und allgemeine Vorfreude offenkundig so groß, dass alle Missstände und Widrigkeiten im langjährigen, problembelasteten Entstehungsprozess des singulären Großprojektes gänzlich ausgeblendet schienen. Selbst die kritischsten Fragesteller blieben für den Moment stumm. Die Gunst der Stunde klug für eine effektsichere Eigenwerbung nutzend, drehte NDR-Intendant Lutz Marmor, in dessen Zuständigkeitsbereich das künftig als Residenzorchester der Elbphilharmonie wirkende NDR Sinfonieorchester fällt, die Optimismus-Schraube noch etwas weiter – mit einer „Bestandsgarantie für alle unsere Musik-Ensembles“. Ein bemerkenswertes Bekenntnis, das derzeit keineswegs selbstverständlich ist innerhalb der ARD und einiges aussagt über die momentane Stimmungslage im Norden.
Weiter →Der Blick des Intendanten war dabei gewiss auch ein wenig gen Südwesten gerichtet, wo die Kollegen des SWR über die vergangenen Jahre eine gegenläufige Richtung eingeschlagen und sich zuletzt für die Zwangsfusion zweier großer Orchesterformationen entschieden hatten. Die sind just in diesen Wochen auf Abschiedstour, Anfang Mai darf das traditionsreiche SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg noch sein 70-jähriges Jubiläum feiern, dann wird es mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart verschmolzen. Die Pläne des ab der kommenden Saison neu formierten Klangkörpers „SWR Symphonieorchester“ wurden – Ironie der Ereignisse – just in der gleichen Woche vorgestellt wie die Pläne des (offenbar einem eher plakativ-oberflächlichen Bedürfnis folgend) ebenfalls umbenannten „NDR Elbphilharmonie Orchesters“ in Hamburg. So grundlegend Konträres kann ein neuer Name bedeuten.
Unsere Kulturnation in höchst variablen Grenzen zwischen Möglich-Sein und Möglich-Machen: Der Umgang mit den Radio-Sinfonieorchestern und ihrer zum Teil sehr ruhmreichen Geschichte (unzählige Tondokumente füllen die Regale) ist da nur ein Beispiel. Weit ins Land und darüber hinaus ins Internationale ausstrahlende Leuchtturm-Projekte stehen heute – zuweilen sogar sehr dicht! – neben kulturellem Brachland und dem sehr dringenden Bedarf an elementarsten Angeboten. Welche Welten liegen dazwischen, wenn man etwa auf Berlin schaut und dann den Blick weitet in das die Hauptstadt wie eine Insel umschließende Flächen-Bundesland Brandenburg. Während das Publikum in der Metropole allein an der Deutschen Oper Berlin innerhalb weniger Tage wahre Großkaliber der Opernliteratur in geballter Ladung genießen darf (wie grade bei den Richard-Strauss-Wochen), sieht das im unmittelbaren Umland vollkommen anders aus. Ein einziges Mehrspartentheater mit repertoiremäßigem Opernbetrieb ist in ganz Brandenburg nach diversen Sparrunden übrig geblieben. Aber Not macht erfinderisch: Seit fünf Jahren sorgt die „Wanderoper Brandenburg“ für eine Grundversorgung in Sachen Musiktheater. Ein ganz besonderes Projekt! Und doch nur ein Beispiel von erfreulich vielen Aktivitäten, die sich aus der Gesellschaft heraus in gemeinschaftlichem Engagement entwickelt haben und mit gänzlich anderen, zuweilen sehr einfachen Mitteln durchaus ähnlich ansteckende Begeisterung vermitteln können wie so manche Veranstaltung hochsubventionierter Staatsbetriebe. Künstlerischer Anspruch und spürbare Hingabe sind die gemeinsamen Konstanten dieser simplen Formel: Egal wo und wie, ein Publikum muss nur die Chance bekommen, Musiktheater zu erleben. Wie leicht ist es dann mit dem Opernvirus infiziert!