EDITORIAL
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 4/2018
Hochgestimmte Erwartungen! Elektrisierende Spannung! Begeisterungsstürme! Wenn ein ganzes Haus „herniederkommt“, löst das bei allen Beteiligten höchste Glücksgefühle aus, sowohl auf der Bühne und im Graben, als auch hinter den Kulissen und, vor allem, im Saal. Jeder von Ihnen, liebe Leser, wird derartige Opernsternstunden schon erlebt haben, an denen der Gesang, das Dirigat, die Orchesterleistung, die Szene – kurz: alle Komponenten des großen, großartigen Gesamtpakets Musiktheater kongenial zusammenfinden und die Stimmung so sehr zum Überkochen bringen, dass am Ende kollektiver Jubel ausbricht. Ganz abgesehen von jenen singulären Ereignissen, die schon von Beginn an das Publikum in helle Erregung zu versetzen vermögen, wie gerade am Liceu in Barcelona geschehen, wo die starbesetzte Übernahmepremiere von »Andrea Chénier« einen regelrechten Begeisterungstaumel auslöste.
Weiter →Koproduktionen haben zweifellos Konjunktur. Das spanische Traditionshaus an den Ramblas setzt seit einigen Jahren stringent wie kaum ein anderes Theater auf diese besondere Form der Opern-Attraktion. In der Tat kann man sich angesichts derartiger Erfolgsgaranten wie diesem zuvor auch in London, Beijing und San Francisco gezeigten »Chénier«, der wunderbaren »Adriana Lecouvreur« (2012 am Liceu, zuerst am ROH in London, zuletzt mit Anna Netrebko in Wien zu erleben) oder dem »Benvenuto Cellini«-Spektakel – herausgekommen ebenfalls in London, allerdings an der ENO, 2015 am Liceu, derzeit an der Nationaloper Paris – die Frage stellen, ob diese „Koproduktion-Strategie“ nicht tatsächlich das bessere Premierenprogramm sei. Doch so einfach ist es nicht. Und es taugt auch hier nicht alles in gleicher Weise; die Frankfurter »Carmen« beispielsweise wurde bei der Übernahme am Royal Opera House in London nicht besser. Die Reihe könnte man, mit Fallbeispielen auf beiden Enden der Niveauskala, beliebig fortsetzen.
Wie immer geht es letztlich um die qualitative Basis in allen künstlerischen Abteilungen, was selbstredend für Premieren und Übernahmen gleichermaßen wie auch den gesamten Repertoirebetrieb gilt. Die genannten „Wander-Produktionen“ sind in erster Linie deshalb so erfolgreich, weil sie neben aller szenischen Attraktion an jedem einzelnen Haus, wo sie Station machen, mit hochkarätigen, handverlesenen Sängern angesetzt werden. Echte Neuproduktionen aber tragen, insbesondere in der so vielfältigen deutschen Opernlandschaft, ganz wesentlich zur Lebendigkeit des Genres bei. Erst recht, wenn sie so triumphal gelingen wie so manche Premiere in den vergangenen Wochen.
Für die Künstler ist das, was aus dem Saal zurückkommt, nicht nur ein Gradmesser für die eigene Leistung, sondern in der Regel auch ein ganz wesentlicher, da energetischer Faktor. Ricarda Merbeth, Titelkünstlerin dieser Ausgabe, spricht in diesem Zusammenhang wunderbar poetisch von „all den Seelen“, die sie auf der Bühne spüren könne. Auch Leo Hussain, Dirigent von Puccinis »Edgar«, der diesjährigen St. Galler Festspiel-Rarität, ist davon überzeugt, dass das Publikum viel zu eben jener Energie beiträgt, die von einer Aufführung ausgeht.
Wir alle sind also Teil eines Ganzen, und es liegt nicht selten auch an uns als Zuschauer, dass eine Vorstellung zu etwas Besonderem wird. Lesen Sie also ganz in diesem Sinne die ausführlichen Berichte in dieser Ausgabe nicht allein als spannende Informationen, sondern als Anregungen: Gehen Sie hin, bilden Sie sich Ihre eigene Meinung und, vor allem, lassen Sie sich mitreißen und begeistern!