Editorial
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 3/2016
„Ich war dabei!“ Diesen Satz werden sicher auch Sie, liebe Leser, in begeisterter Rückschau auf besondere Opernvorstellungen schon gesagt haben; in dem einen oder anderen Fall vielleicht auch verbunden mit einer gewissen Wehmut. Dieses unbeschreibliche Gefühl, an etwas Großem, das gerade in diesem einen außerordentlichen Moment entsteht, teilhaben zu dürfen, ist mit kaum einem anderen Glücksgefühl zu vergleichen: ein Geschenk, das einem manchmal fast vorhersehbar begegnet – tolle Sänger, ein großer Dirigent, die Lieblingsoper – oder sogar gänzlich unvorbereitet. Ganz sicher aber ist es: ein Liveerlebnis.
Weiter →Das direkte Erleben bleibt auch im Multimedia-Zeitalter der dauerpräsenten, allumfassenden Verfügbarkeiten ein ganz wesentlicher Faktor des Musiktheaters, bei dem als besonderer Reiz das Risiko eines möglichen Misslingens stets genauso mitschwingt wie die Chance auf einen spektakulären Triumph – sei es in Gestalt einer grandiosen Sängerleistung, eines mitreißenden Dirigats, einer packenden Regie oder, im Idealfall, als durchweg überzeugendes Komplettpaket. Gelingt das mit einem gänzlich neuen Werk, ist dies ein Ereignis, das für allen Mut und alle Mühen, die eine solche Unternehmung regelmäßig einfordert, mehr als entschädigt. Riesenfreude daher aktuell in München und Hamburg, wo mit der ganzen Power und Kompetenz großer Staatstheater und getragen von der Gestaltungskraft charismatischer -Bühnenstars erstaunliche Publikumserfolge eingefahren werden konnten.
Die Oper lebt, auch weil sie sich selbst erneuert. Und Konkurrenz beflügelt: Jedes Theater, das auf sich hält, bringt Uraufführungen heraus; auch viele Sänger begeistern sich längst wieder für die einstmals eher gemiedene Moderne. Ein gewisser Starappeal kann dabei gewiss nicht schaden, und so manches neue Werk wird gerade durch die Rolleninkarnation herausragender Sängerpersönlichkeiten nachhaltig geprägt, man denke nur an Renée Flemings unvergessene Blanche in André Previns »A Streetcar Named Desire«, oder Simon Keenlyside und Ian Bostridge in Thomas Adès’ »The Tempest«, um nur einige wenige zu nennen.
Doch es sind eben nicht allein die großen, finanzstarken Institutionen, die sich für das nicht selten aufwändige, durchaus risikobehaftete Unterfangen „Neue Oper“ einsetzen, sondern auch viele mittlere und kleine Bühnen. Ein Engagement, das nicht hoch genug gewürdigt werden kann angesichts klammer Kassen und auf Auslastungszahlen fixierter Entscheidungsträger. Noch bedeutender aber scheint mir der Einsatz jener Theater, die sich mit dem Auftritt „in zweiter Reihe“ begnügen und für die Zeitgenossen auch ohne den Glanz der prestigeträchtigen „ersten Nacht“ interessieren. Selbst mit triumphalen Uraufführungserfolgen gesegnete Opern haben schließlich nur dann eine Chance, sich als eigenständiges Kunstwerk zu beweisen und sich im Repertoire zu verankern, wenn andere Bühnen sie nachspielen. Wie sonst wäre aus einem so individuellen Stück Musiktheater wie Helmut Lachenmanns »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern« ein moderner Klassiker geworden?
Selten aber ist in der Neuen Musik eine derartige Erfolgsgeschichte zu beobachten wie die von George Benjamins »Written on Skin«. Innerhalb weniger Jahre ist diese Oper an zahlreichen Orten gezeigt worden, das Publikum war jedes Mal begeistert. Woran liegt’s?
Wir haben den Komponisten selbst befragt. Derzeit ist er mit seinem Hauptwerk in unmittelbarer Abfolge in Dortmund, Köln, Barcelona, Madrid und London präsent. Wie überhaupt in den kommenden Wochen und Monaten einige höchst spannende Projekte des zeitgenössischen Musiktheaters zur Auswahl stehen, allein im laufenden Monat gibt es Uraufführungen neuer Opern von Volker David Kirchner (»Gutenberg« in Erfurt), Kaija Saariaho (Amsterdam) und Carlisle Floyd (Houston) zu erleben. Auch die Reihe wichtiger Erstaufführungen ließe sich fortsetzen, Titelkünstlerin Aida Garifullina engagiert sich ganz aktuell für die Premiere von Peter Eötvös’ »Tri Sestri« an der Wiener Staatsoper.
Ausreichend Gelegenheit also, sich der Oper in ihrer ganzen zeitgenössischen Bandbreite zu widmen. Und wer weiß, vielleicht wartet ja gerade hier wieder einer jener ganz besonderen „Ich war dabei!“-Momente auf Sie?