EDITORIAL
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 2/2018
Carmen soll nicht sterben. So hat es jüngst der Intendant der Oper in Florenz entschieden – und damit einen veritablen Theaterskandal in der italienischen Metropole entfacht. Eine politische Aussage wolle man treffen mit der radikalen Änderung des Bizet-Finales als bewusste Inbezugsetzung zum Heute. Die neue Florentiner Carmen, die sich im dramatischen Showdown erfolgreich wehrt und Don José erschießt, bevor dieser zustechen kann, zielt auf eine tragische Wahrheit: die in Italien dramatisch hohe Mordrate an Frauen.
Ein erschütternder Bezug, der als interpretatorischer Hintergedanke fraglos moralisch unanfechtbar ist, und der durch den bewusst einkalkulierten Premierenskandal die verdiente, große Aufmerksamkeit erhielt. Aber rechtfertigt dies den Eingriff in das Werk?
Weiter →Künstlerische Freiheit ist gut und richtig, auch die Konfrontation mit unbequemen Wahrheiten zuweilen notwendig, wenn das Theater nicht allein als musealer Genusstempel, sondern auch als moralische, sinnstiftende, gesellschaftsrelevante Instanz wahrgenommen werden will. Aber wie weit darf im Namen der Kunst die Modifikation eines Werkes gehen: vorzugsweise original, alles nur nicht gegen die Musik, gern mal aufregend anders, gar radikal neu? Gewiss haben auch Sie, liebe Leser, über derartige Fragen schon oft genug diskutiert und engagiert gestritten. Wirklich problematisch wird es bei Veränderungen der kompositorischen Struktur; hier haben wir insbesondere auf den deutschen Bühnen schon (zu) viel erleben müssen – bis hin zu kompletten Umbauten der Szenenfolge, externen Zutaten, Auslassungen, Sprechtextbeigaben und so weiter. Dieser Weg, der sich doch eigentlich längst als Irrweg herausgestellt hat, scheint noch immer nicht ausgeschritten.
Das Mutterland der Oper hatte sich derartiger Auswüchse bisher recht -erfolgreich erwehren können. Die Kehrseite der Medaille: Die von etlichen italienischen Theaterleitern geradezu ängstlich betriebene Reduzierung des szenisch Akzeptierten auf Historisch-Museales hat vielerorts immer weiter in die Tiefebene künstlerischer Bedeutungslosigkeit geführt. Die Furcht vor dem einen Extrem als Flucht in das andere. Seit einiger Zeit jedoch senden Kulturschaffende auch aus den unterschiedlichsten Regionen Italiens wieder positive Signale. Nach Jahren des brachialen finanziellen Kahlschlags sind viele Theater und Festivals südlich der Alpen inzwischen zumindest so weit abgesichert, dass sie auf Basis einer soliden Planungssicherheit wieder optimistisch in die Zukunft schauen und an den kreativen Profilen ihrer Kompanien feilen können. Giampaolo Bisanti, Titelkünstler dieser Ausgabe und zunehmend gefragter Gastdirigent an internationalen Opernhäusern, hätte sich sonst gewiss nicht mit einem Festvertrag an ein Theater seines Heimatlandes binden lassen.
Noch etwas weiter südlich im Mittelmeer, nur gut eine Flugstunde vom süditalienischen Bari und seinem prachtvollen Teatro Petruzzelli entfernt, liegt die Heimat von Jospeh Calleja. Der maltesische Startenor hat uns, passgenau zum Auftakt der Feierlichkeiten in Valletta, der Kulturhauptstadt Europas 2018, wo er vor inzwischen gut 20 Jahren sein Operndebüt gegeben hatte, aufregende Rollenpläne verraten. Das werden gewiss ähnlich spannende Debüts, wie sie aktuell auch andere Stars im Angebot hatten, seien es Sonya Yoncheva und Vittorio Grigolo als Tosca und Cavaradossi an der Met, Marlis Petersen als Maria Stuarda in Wien, Saimir Pirgu als Pinkerton in Zürich oder Juliane Banse als Marschallin im kleinen, feinen Fürstbischöflichen Opernhaus in Passau. Wir waren bei all diesen und allen weiteren interessanten Premieren für Sie live vor Ort dabei. Eine anregende Lektüre wünsche ich Ihnen.