EDITORIAL
Autorin: Y. Han · Ausgabe 01/2023|
Ein Jahr geht zu Ende, ein neues beginnt. Für viele knüpfen sich an den gefühlten Neubeginn Hoffnungen, Wünsche und Vorsätze für ein endlich doch noch optimiertes, etwas besser gelebtes Leben, veränderte Voraussetzungen – im Kleinen wie im Großen. Im Großen schälen Welt und Gesellschaft sich seit einigen Jahren beständig, es wird Althergebrachtes neu unter die Lupe genommen, teilweise rigoros und folgerichtig aussortiert, Neues und neu gedachte Werte in unsere Leben eingeführt, wovon sich so manches aber auch sicher erst noch beweisen und bewähren muss; das alles mit noch mehr Empathie und weniger Empörung – für uns alle vielleicht ein guter Vorsatz. So eine Phase des Wandels ist immer aufregend wie aufreibend – erst recht unmittelbar nach einer Krise (Pandemie) beziehungsweise mitten in einer sich aus Krieg, Wirtschafts-, Energie- und Umwelt-Krise zusammensetzenden Zeit –, da sie zwar Dinge anschieben und erreichen kann, andere aber auf der Strecke bleiben.%weiter%
Sieht man einmal von gelegentlich unverhältnismäßig hohen Ticketpreisen ab, kann man der Oper durchaus den Willen attestieren, dass sie seit Jahren immer wieder Anstrengungen im Sinne von Chancengleichheit unternimmt, um so wenige wie möglich auf der Strecke zu lassen und im Gegenteil so viele wie möglich mitzunehmen. Sei es durch kreative Kinder- und Jugendprogramme, die auch unsere Jüngsten frühestmöglich ans Musiktheater heranführen und hoffentlich den Boden für spätere Besuche bereiten sollen, besondere Preis-Angebote, aber auch durch das verstärkte Umsetzen von Thematiken, in denen andere Kulturen und Ethnien im Zentrum stehen, so wie es kürzlich in Amsterdam mit der Europapremiere von »Blue«, einer Erzählung von Polizeigewalt in den USA, der Fall war, und im neuen Jahr in St. Gallen mit der Übernahme-Premiere von »The Time of our Singing«, der Opernadaption von Richard Powers’ Erfolgsroman, oder der bereits seit 2009 in Vorbereitung befindlichen Uraufführung von »A Thousand Splendid Suns«, basierend auf Khaled Hosseinis Beststeller, geschehen wird. Es sind Geschichten, die dem ein oder anderen hauptsächlich an der europäischen Romantik geschulten Opernbesucher zunächst vielleicht fremd sind; aber Christina Scheppelmann, Opera Director in Seattle, hat es in Bezug auf die anstehende Uraufführung recht gut auf den Punkt gebracht: „Während Themen wie Liebe, Angst, Freiheit und Opfer auch dem normalen Opernbesucher bekannt sein werden, liegt in den unvorstellbaren Herausforderungen, vor denen die Protagonistinnen dieser Oper stehen, eine erneute Dringlichkeit. Indem wir die Universalität des Bandes zwischen Laila und Mariam erkunden, können wir unsere gemeinsame Menschlichkeit angesichts von Leid und Not beleuchten.“|
„Gemeinsame Menschlichkeit“, das ist vielleicht ein schöner gemeinsamer Nenner, auf den man sich für einen neuen Jahreskreislauf einigen können und der uns in unserem steten Bemühen, ein besserer Mensch zu werden, bestärken sollte. Gemeinsame Menschlichkeit, unseren nächsten zu helfen, gemeinsame Menschlichkeit, den uns nachfolgenden Generationen einen lebenswerteren Planeten zu hinterlassen, gemeinsame Menschlichkeit im Bemühen um Frieden und Versöhnung. Wie Hermann Hesse schon 1914 unter der Überschrift „O Freunde, nicht diese Töne!“ schrieb: „Uns andern, die es mit der Heimat gut meinen und an der Zukunft nicht verzweifeln wollen, uns ist es Aufgabe geworden, ein Stück Frieden zu erhalten, Brücken zu schlagen, Wege zu suchen, aber nicht mit dreinzuhauen (mit der Feder!) und die Fundamente für die Zukunft Europas nicht noch mehr zu erschüttern.“|
Ich wünsche Ihnen einen guten Jahreswechsel, sei er besinnlich oder auch fröhlich-laut, und freue mich mit Ihnen auf ein neues Jahr, mit möglichst schönen Tönen.||
Ihre Yeri Han