EDITORIAL
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 6/2017
Von wegen Provinz! Einem sich hartnäckig haltenden Klischee zum Trotz sind etliche international gefragte Sängerpersönlichkeiten durchaus sehr gern auch einmal eben nicht am Staatstheater präsent, sondern tummeln sich zwischendurch an Opernhäusern, die abseits der bekannten Star-Jetset-Route liegen. José Curas Begeisterung für die Arbeit an deutschen Opernhäusern mittlerer Größe ist inzwischen sogar fast sprichwörtlich, sein jüngster Erfolg an der Oper Bonn spricht für sich. Ein besseres Argument für den Ensemblegedanken kann es kaum geben.
Weiter →Und doch kreist natürlich ein beträchtlicher Teil des Opernbetriebs um jene „very few“, die das Zeug haben, eine Vorstellung nachhaltig durch ihre Kunst (und ihre Persönlichkeit!) zu prägen, zuweilen gar einen Abend ganz allein zu tragen – und die schon vorab durch das Aufscheinen ihres Namens auf der Besetzungsliste für frühzeitig klingelnde Kassen sorgen. Letztere sind noch immer gute Gradmesser für die Berechtigung, das oftmals viel zu inflationär gebrauchte Etikett „Star“ tragen zu dürfen. Dabei wäre andererseits eigentlich sogar die Ausweitung einer solchen Begrifflichkeit durchaus angebracht, denkt man an die vielen nur lokal bekannten Sängerinnen und Sänger, die an all den mittleren und kleinen Theatern Abend für Abend das Publikum begeistern. Und ist nicht – vor allem dort – sogar das ganze Ensemble der eigentliche Star?
Die Oper ist nichts für Einzelkämpfer. Sie ist ein hochkomplexer Betrieb, bei dem wenige große und unzählige kleine Rädchen ineinandergreifen, um das vielschichtige System Musiktheater am Laufen zu halten – auf der Bühne, im Graben, in der Technik und hinter den Kulissen. Gewiss sind auch Sie, liebe Leser, schon einmal nach einem erwartungsfroh gestarteten Opernbesuch mit dem etwas schalen Eindruck in die Nacht hinausgegangen, dass dann doch nicht alles „rund“ gelaufen, das Gesamterlebnis nicht komplett gewesen ist, da Musik und Szene nicht zusammengingen oder nur einzelne Künstler wirklich überzeugen konnten. Wie beglückend dagegen, wenn ein bestens aufeinander eingespieltes Ensemble zu Höchstleistungen aufläuft. Da ist es letztlich nebensächlich, ob ein Gaststar dabei ist, die lokale „Mannschaft“ als Heimspiel am Stadttheater angetreten ist oder ein „all star cast“ an der Met.
Apropos Stars: Auch Curas schon länger ebenfalls regieführender Tenor-kollege Rolando Villazón lebt seine Leidenschaft sehr gern und mit Begeisterung in der vielfältigen deutschen Opernlandschaft aus, aktuell mit einer Neuproduktion an der Deutschen Oper am Rhein. Und wie gut sich die ganz Großen selbst für einen einzigen Abend in ein Ensemble integrieren können, wenn das Umfeld stimmt, beweisen immer wieder die an einigen Theatern zur beliebten Tradition gewordenen „Gala“-Vorstellungen. Da fragt man sich dann schon, warum es manch anderem Opernhaus so schwer zu fallen scheint, hochkarätige Kaliber überhaupt ans Haus zu holen. Mangelndes Verhandlungsgeschick? Wenig Fantasie? Kein Interesse? In Hamburg, wo man sich zuletzt voll auf den neuen Oberliga-Konzerttempel in der Elbe konzentriert hatte, gönnt man sich für sein derzeit eher gemütlich dümpelndes Opernschlachtschiff an der Dammtorstraße in der kommenden Saison immerhin – mit freundlicher Unterstützung durch die „Stiftung zur Förderung der Hamburgischen Staatsoper“ – einige sehr prominent besetzte Aufführungen, galant zusammengefasst als „Italienische Opernwochen“. Ein Hoffnungsschimmer für hanseatische Melomanen, die in den vergangenen Jahren gesangliche Bravour arg vermissen mussten – ganz unabhängig ob im Ensemble oder als Gast.