EDITORIAL
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 5/2017
Vermutlich kennen Sie das auch: Da schwärmt man jahrelang von den schönsten Opernerlebnissen, bei denen einfach alles gestimmt hatte, vom Dirigat über die Sänger bis hin zur Szene; und kaum bekommt man dann doch einmal einen Mitschnitt des sich im Rückblick fast schon verklärenden Ereignisses zu hören (oder eine Videoaufnahme zu sehen), relativiert sich der Superlativ; sehr gut zwar alles, aber eben doch nicht durchweg etwas für die Ewigkeit. Da wird so manches in der Erinnerung überhöht. Aber auch der eigene Geschmack verändert sich, ebenso der mit jeder Hörerfahrung steigende Niveaumaßstab und die dabei gleich mit anwachsende Erwartungshaltung; eine Entwicklung, die mit Sicherheit auch Sie, liebe Leser, ganz persönlich an sich selbst erfahren haben werden.
Weiter →Und doch gibt es sie natürlich tatsächlich, die wahrhaft singulären Abende, die Momente schieren Glücks bescheren – potenziert noch in ihrer Wirksamkeit durch den Multiplikator des Liveerlebnisses. Der raumgreifend emotionale Effekt einer besonders gelungenen Arie, die Spannung angesichts eines nicht ganz auf der Höhe seines Könnens angetretenen, dann aber doch Höchstniveau abliefernden Stars, die kaum beschreibbare, unwiderstehliche Sogwirkung eines idealen Zusammenwirkens aller Beteiligten auf der Bühne und im Graben: All diese Faktoren entwickeln ihre ganz eigene Faszination nur in diesen Stunden des direkten, unmittelbaren Erlebens im Opernhaus.
Auf manchen Tondokumenten ist dieses Gefühl glücklicherweise als spannungsgeladene Atmosphäre zu spüren, selbst bei Aufnahmen aus Zeiten, in denen man im technischen Bereich noch mit vergleichsweise einfachen, ursprünglichen Mitteln operiert hat, dafür aber ganz wesentlich dem dokumentarischen Charakter einer Aufnahme gefolgt ist und damit auch die Ausführenden noch einmal besonders angespornt hat. Was für ein elementarer Unterschied zur heutigen Zeit, da an jedem möglichen (und unmöglichen) Ort praktisch alles und jeder per Mobilkamera gefilmt, etliches davon alsbald im Internet gepostet und zuweilen binnen Sekunden weltweit geteilt wird. Was in Popkonzerten seit Jahren enervierender Usus ist, nimmt leider auch im Klassikbereich zu: Zwar bringen sich in erster Linie die Filmenden selbst um die Einmaligkeit des Liveerlebnisses, aber ein leuchtendes Display in der Oper stört vermutlich nicht nur Puristen. Und doch scheint diese Unsitte erstaunlicherweise weit mehr Akzeptanz bei einem Großteil des Publikums zu finden als ein ehrlich gemeinter, aber an vermeintlich „falscher“ Stelle aufbrandender Applaus.
Mit fortschreitender Entwicklung der technischen Möglichkeiten ist erfreulicherweise auch die professionelle Dokumentation immer vielfältiger und, damit einhergehend, auch das Angebot an qualitativ hochwertig in Radio, TV, Kino und Internet live übertragenen Opernaufführungen beständig größer geworden. Die in der Regel im Anschluss erfolgende Verwertung als CD- bzw. DVD-Produktion bereichert praktischerweise das Sortiment für alle Beteiligten gleichermaßen. Reine Studio-Aufnahmen von ganzen Opern dagegen gibt es derweil kaum noch. Auch im CD-Teil unserer Mai-Ausgabe überwiegen einmal mehr die Liveaufnahmen, während hingegen die Soloalben der Stars weiterhin mit beträchtlichem Aufwand im Tonstudio eingespielt werden. Die Solo-Scheibe gilt nach wie vor als akustische Visitenkarte eines Sängers – allen multimedialen Beliebigkeiten unserer Zeit zum Trotz. Das erfreut umso mehr, wenn, wie aktuell bei unserem starken Sopran-Trio Peretyatko/Damrau/Lezhneva, die Einspielungen dann noch einer thematisch interessanten Werkauswahl folgen, die unter Umständen sogar auch der Programmvielfalt der Opernhäuser zugutekommen kann. Mehr russische Raritäten, mehr Graun, noch mehr Meyerbeer? Wir sind gespannt und freuen uns drauf!