EDITORIAL
Autor: Y. Han · Ausgabe 3/2020
„Finden Sie nicht auch, dass stets das erste Mal besonders nachhaltig im Herzen bleibt?“, fragt Christine Goerke im Gespräch unseren Korrespondenten zurück, als dieser wissen möchte, welche der vielen »Ring«-Produktionen, auf die sie bereits zurückblicken kann, ihr die liebste sei. Eine schöne Gelegenheit, auch bei sich selbst noch einmal nachzuforschen – zumal 2020 ein an »Ringen« reiches Jahr ist, das nicht nur ganz neue Produktionen in Paris und bei den Bayreuther Festspielen bringt, sondern auch in Saarbrücken und Würzburg, wo jeweils mit dem »Rheingold« der Startschuss zu einer neuen Tetralogie gesetzt wird, während in Göteborg sowie in Landshut in dieser Spielzeit mit der »Walküre« (der ersten in Niederbayern überhaupt!) bereits das zweite Kapitel geöffnet wurde/wird und in Kassel (März) und in Chicago (April) mit »Götterdämmerung«-Premieren wiederum »Ringe«, diese beispiellosen Mammutprojekte, zur Vollendung kommen werden.
Weiter →Die persönlichen Erfahrungen und Annäherungsgeschichten, die mit dem »Ring des Nibelungen« verbunden sind, sind bekanntermaßen mannigfaltig – die einen lernen ihn, ermutigt und herangeführt von ihren Eltern, bereits als Kinder kennen, andere erst als Erwachsene; die einen lieben ihn von Anfang an oder lernen ihn mit der Zeit zu lieben, die anderen werden mit ihm allen Bestrebungen und Bemühungen zum Trotz nie so richtig warm. „Also wenn man einen ‚Game of Thrones‘-Marathon durchsitzen kann … da kann ich versprechen: der »Ring« ist deutlich cooler“, hat Christine Goerke schon an anderer Stelle gesagt. Und wahrscheinlich ist ein bisschen was dran – der »Ring« holt uns in eine Welt von Göttern und Fabelwesen, bestes Fantasyepos-Material, durchsetzt mit zum Teil schonungslosen Geschichten von Macht, Gier, Verrat, Begehren, Liebe und Tod, Verlust, Schmerz, das alles verpackt in vielschichtigste Musik. Was will man mehr – ist das nicht ein Stoff, der geradezu prädestiniert ist, in die Oper zu locken?
Wer nicht zu den Menschen zählt, die einen unmittelbaren Zugang zu Wagners Werk gefunden haben, kennt vermutlich nur zu gut die mal längere, mal kürzere Geschichte des Sich-Heranarbeitens an dessen Opern(-kosmos). Es ist nicht nur aufgrund der berühmt berüchtigten Spieldauer, sondern auch dank der Komplexität der Komposition in Kombination mit dem Operntext ein zeitaufwendiger und ein reges inneres Engagement erfordernder Prozess, der aber auch exemplarisch steht für die generelle Wichtigkeit und den enormen Wert, nicht davor zurückzuschrecken viel zu hören, viel zu sehen, und das im Optimalfall live im Opernsaal. Nur wer immer wieder die bewusste Begegnung mit einem bestimmten Stück sowie mit einer Vielzahl an Werken sucht, lernt ein solches in all seinen Facetten kennen und weitet seinen Horizont auf wertvolle, in vielerlei Hinsicht bereichernde Weise, denn der Konsum von Oper ist nicht nur ein intellektueller, sondern auch ein sehr emotionaler Vorgang, der ein gewisses Maß an Disziplin sowie Empathie und Aufgeschlossenheit voraussetzt. Dazu gehört aber genauso, immer wieder von Gewohntem und Altbekanntem abzuweichen und Neues zu wagen, denn gerade hier warten oft spannende und unvergessliche Neubegegnungen, die wie das von Frau Goerke heraufbeschworene „erste Mal“ ewig im Herzen nachbeben.
Ein jeder von uns kann sicherlich auf solche Erlebnisse zurückblicken, die das Raster an musikalischen Vorlieben nachhaltig beeinflusst haben – und ein jeder hat auch seine ganz persönliche Geschichte des ersten Opernbesuchs zu erzählen. Für mich waren es als Teenager Brittens »A Midsummer Night’s Dream« und kurz danach »Falstaff« – was gemessen am Durchschnitt vermutlich eher unkonventionelle Erstlinge und vor allem auch recht späte Einstiege sind; eine gute Freundin aus Schultagen wiederum, die als Mittzwanzigerin bei ihrem allerersten Opernbesuch überhaupt (Händels »Almira«, 2014) noch eingeschlafen war, ist nun dank junger Stars wie dem auch in den Sozialen Medien so zugkräftigen und auf unterschiedlichste Zielgruppen wirkenden Jakub Józef Orlinski ein begeisterter Barock-Fan geworden, hochmotiviert, den Opernstar, auf den man durch Instagram und YouTube aufmerksam geworden ist, nun auch live auf der Bühne zu erleben. So verbinden uns alle ganz unterschiedliche Geschichten und Wege mit der Oper – ein weiterer Beweis dafür, wie lebendig, vielseitig und reich an Potenzial das Genre weiterhin ist, wenn man es den Menschen auch entsprechend vermitteln kann.
Wir können das hoffentlich, und so wünsche ich Ihnen mit unserer einmal wieder prall gefüllten März-Ausgabe viel Lese-Vergnügen.