EDITORIAL
Autorin: Y. Han · Ausgabe 01/2024| Willkommen zur amerikanisch angehauchten Jahreswechsel-Ausgabe! Gleich mehrere Rezensionen aus San Francisco und New York sowie zwei große Interviews entführen uns über den Atlantik und bieten interessante Blicke weit über den Tellerrand des europäischen Kulturschaffens hinaus. Auch wenn Europa große Berechtigung hat, sich nach wie vor als Zentrum des Klassischen wie musiktheatralen Kulturlebens zu betrachten, lohnt aktuell so ein Blick nach links und rechts mehr denn je – gerade die vermeintlich so konservativen USA sind seit einigen Jahren Maßstab setzend in der Kreation neuer Werke, die in großer Zahl auf die Bühnen kommen, und das mit großem Erfolg. Die Metropolitan Opera verzeichnet in dieser Spielzeit die größte Zahl an zeitgenössischen Werken in ihrer Geschichte, darunter vier Met-Premieren wie etwa »Dead Man Walking« und »Florencia en el Amazonas«, das erste spanischsprachige Werk, das an der traditionsreichen Bühne zur Aufführung kommt. Ausweitung des bestehenden Repertoires und Ansprache neuer Publikumskreise stehen im Zentrum dieser künstlerischen Ausrichtung – und letzteres scheint durchaus zu funktionieren, wenn man sich bei dem Besuch von neuem Repertoire im Saal umschaut. Gerade Werke wie jüngst »X: The Life and Times of Malcolm X« oder »Florencia« können einerseits die Identifikation mit dem Genre Oper verstärken beziehungsweise sie überhaupt erst auslösen, andererseits aber auch für Themen sensibilisieren, dadurch eine nicht zu unterschätzende Bildungsarbeit leisten und einen neuen, andersartigen Zugang eröffnen.%weiter%
Die Bildungs- und Aufklärungsarbeit von Musik sollte nicht missachtet werden, wie auch kleinere Studiobühnen-Produktionen wie »Das Tagebuch der Anne Frank« zeigen. Es ist wichtig, dass es diese Werke von inhaltlicher Relevanz gibt, selbst wenn sie nicht Selbstläufer wie eine »Tosca« sind, denn sie wirken auf den Menschen auf andere emotionale Weise ein als Sachbücher, Geschichtsunterricht oder eine Fernseh-Dokumentation. Wer Daniel Kehlmanns jüngsten Beststeller „Lichtspiel“ gelesen hat, hat angesichts seiner akkuraten und unheimlichen Schilderungen der manipulativen Kraft von Angst und den daraus resultierenden Lebensentscheidungen vielleicht ebenfalls ein großes innerliches Unbehagen verspürt – genau das sollte uns aber auch daran erinnern, wozu der durchschnittliche Mensch imstande ist, wie schnell eine Gesellschaft angesichts von äußeren Dynamiken in ein Klima von Angst und Feindseligkeit kippen kann. Der Eskapismus, mit dem gerade jüngere Menschen heute gern kokettieren angesichts der Flut von Krisen-, Kriegs- und Katastrophenmeldungen, ist jedoch ebenfalls keine Lösung. Wir müssen uns mit den Dingen, die im Argen liegen, auseinandersetzen, wenn wir eine aufgeklärte und partizipierende Gesellschaft bleiben und gemeinsam Lösungen finden wollen. Die Aufgeklärten müssen sich aktiv gegen den Hass stellen, der sich gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen richtet und gefühlt immer größer wird, mitgeschürt von destruktiven Kräften und den Ängsten, die in vielen Gesellschaftsschichten um sich greifen und dort zu einem immer verzerrteren Weltbild führen – Antisemitismus, Xeno- und Homophobie, Misogynie und das Leugnen der Klimakastrophe sind nur ein paar Beispiele. Nur indem wir Stellung beziehen und involviert sind, kann es uns gelingen, dass wir freiheitlich und demokratisch bleiben und Geschichte sich eben nicht wiederholt. Daher lassen Sie uns den verschiedenen Narrativen auf der Bühne den ihnen gebührenden Raum geben – sie eröffnen uns neue Perspektiven und lehren uns im selben Zug immer wieder aufs Neue das aktive und kritische Mitdenken, das so essenziell für eine gesunde Gesellschaft ist.
Ich hoffe, dass Ihnen der Blick nach links und rechts ebenso viel Freude und neue Impulse beschert wie uns, und danke Ihnen für Ihre große Treue auch in diesem sich dem Ende entgegenneigenden Jahr. In diesem Sinne: Ihnen und Ihren Lieben einen frohen Jahreswechsel sowie einen guten Start in ein wieder musikalisches und inspirierendes 2024 im Namen der gesamten „Opernglas“-Familie!||
Ihre Yeri Han