Editorial
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 4/2016
Ist das Kunst oder kann das weg? Das in der bildenden Kunst spätestens seit den legendären Putz-Malheurs in den 1970er- und 80er-Jahren (Stichwort Beuys-Fettecke) zum geflügelten Wort avancierte Bonmot kann im Bereich Musiktheater ein ganz eigenes Diskussionspotenzial entwickeln. Man wundert sich nur, warum das so selten geschieht. Denn was einem da zuweilen von der Bühne und aus dem Graben an zurechtgestutztem Stoppelkram geboten wird, lässt schon mal an den Kriterien zweifeln, nach denen für uns entschieden wird, was und in welcher Form wir von einer Oper überhaupt zu Gehör bekommen. Bastelsatz Musiktheater: Dirigent, Regisseur, Intendanz, zuweilen auch die Sänger wählen, den unterschiedlichsten Beweggründen folgend, aus autorisierten oder über die Jahre tradierten Fassungen – „Das haben wir hier schon immer so gemacht“ – oder erstellen kurzerhand eine eigene.
Weiter →Ein unvollendet hinterlassenes Werk wie Jacques Offenbachs »Les contes d‘Hoffmann« nötigt aufgrund seines fragmentarischen Charakters jedem Produktionsteam eine ganze Reihe von Entscheidungen ab: welche Fassung, wie konsequent, Reihenfolge der Akte, Besetzungsfragen? Das liegt in der Natur der Sache und macht einen besonderen Reiz derartiger Werke aus. Die jetzt von Offenbach-Spezialist Jean-Christophe Keck angekündigte Wiederentdeckung des Partitur-Autographs der beiden ersten Akte (Prolog und Olympia-Akt) könnte hier zumindest teilweise neues Licht ins Dunkel bringen. Es wäre eine veritable Sensation.
Aber so, wie es beim »Hoffmann« und auch bei einigen anderen Opern Usus ist, das Publikum spätestens im Programmheft, idealerweise schon zuvor in der Saisonvorschau, auf die jeweils gewählte Fassung hinzuweisen – Glucks »Orpheus« in der schlichten italienischen oder der ausgeschmückten französischen Version? Wagners »Holländer« dreiaktig oder in der durchkomponierten Urfassung? Puccinis »Turandot« mit Alfanos triumphalem Chorfinale oder dem stillen Berio-Schluss? – will man doch eigentlich ganz grundsätzlich informiert sein, was in einer Vorstellung, für die man Karten kauft, zu hören ist. Ob und in welchem Ausmaß wird ein Werk in seiner musikalischen Struktur verändert? Und warum? Berechtigte Gründe kann es durchaus geben. Doch allzu oft müssen wir uns mit einer Art Überraschungspaket abfinden, das uns am Abend eine Opern-Version präsentiert, die dann eben doch in Nuancen modifiziert oder gar in groben Strichen gerafft ist. Ein da capo-Teil hier, eine Cabaletta dort, die eine oder andere Chorszene, das ganze Ballett? Weg damit, merkt eh keiner!
Eine erstaunlich unwidersprochene, langmütig geduldete Selbstverständlichkeit im freien Umgang mit der Partitur, gepaart mit einem hartnäckigen Schlendrian unter dem Deckmantel „Tradition“, hat dazu geführt, dass nur noch erfahrenste Opernkenner die Werke in ihrer Originalgestalt kennen und etwaige Auslassungen überhaupt bemerken. Akustisches Memory für Fortgeschrittene. Das aber kann nicht das Ziel einer Opernaufführung sein. Die großen Komponisten mögen als echte Theaterpraktiker häufig genug gefordert gewesen sein, flexibel, pragmatisch und möglichst kreativ auf besondere Umstände – oder individuelle Wünsche – zu reagieren. Diverse Veränderungen, Umbauten, Kürzungen entstammen ihrer eigenen Feder oder wurden von ihnen noch zu Lebzeiten genehmigt oder zumindest geduldet. Doch ist das ein Freifahrtschein für den rotierenden Rotstift? Ich will nicht einsehen, dass wir heute mit all unseren musikwissenschaftlichen Erkenntnissen und fantastischen künstlerischen Ressourcen kaum in der Lage sein sollen, ein epochales, episches Meisterwerk wie Rossinis »Guillaume Tell« in der vom Komponisten sehr bewusst konzipierten Anlage als Grand Opéra zu spielen. Die monumentalen Opern eines Richard Wagner oder Richard Strauss stellen ja ebenfalls höchste Anforderungen an die Ausführenden und nehmen, selbst mit den auch hier nicht unüblichen Strichen, eine gewisse Spieldauer in Anspruch. Und die Zuschauer durchleben diese Darbietungen in der Regel mit größtem Genuss.
Gerade in Deutschland rühmen wir uns einer weltweit einzigartigen Opernhausdichte und künstlerischen Vielfalt. Ich denke, es ist nicht vermessen, sich zumindest für einen Teil der so beeindruckend zahlreichen Neuproduktionen eine Verlagerung des Fokus‘ zu wünschen – weg von der zunehmend ermüdenden Jagd nach regielichen Geistesblitzen und szenischer Erregung, hin zu mehr musikalischer Sorgfalt und Verantwortung gegenüber dem Komponisten. Liebe Intendanten und Generalmusikdirektoren, ich bin mir sicher: Dank und Zuspruch des Publikums sind Ihnen gewiss!